Neurologie

Der Schlaganfall 

Eine Krankheit, die die Menschheit bewegt

10min
Katharina Schroll-Bakes
Veröffentlicht am May 1, 2022

Das Gehirn ist die Steuerzentrale unseres Körpers. Obwohl es nur zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, verbraucht es ungefähr 20 Prozent der Energie, die dem Körper zur Verfügung steht. Rund 1.100 Liter Blut werden pro Tag hindurchgepumpt und versorgen das Gehirn mit etwa 75 Liter Sauerstoff und 115 Gramm Zucker. Bei einem Schlaganfall wird die Zufuhr zu bestimmten Arealen des Gehirns unterbrochen und innerhalb weniger Minuten beginnen die Gehirnzellen abzusterben. Über Jahrtausende hinweg steht man diesem Vorgang hilflos gegenüber. 

Titelseite der 1556 in Venedig erschienenen „Opera Omnia“ von Galen

Bereits vor mehr als 2.000 Jahren beschreiben Ärzte in den hippokratischen Schriften diese Erkrankung und geben ihr den Namen: Apoplexia – heftiger Schlag wie ein Blitz. Die Behandlungsmöglichkeiten sind extrem eingeschränkt: „Einen schweren Schlaganfall zu heilen ist unmöglich, einen minderschweren zu heilen nicht leicht.” Daher rät der berühmte griechische Arzt Galen zu einer ausgewogenen Ernährung, Laufen und Sport – vorbeugenden Maßnahmen, die heute noch genauso aktuell sind wie damals, um das Schlaganfallrisiko zu senken. Basierend auf der Viersäftelehre, die in der Antike entwickelt wird, um die Vorgänge im menschlichen Körper zu erklären, geht man bis ins 17. Jahrhundert davon aus, dass der Schlaganfall durch ein Ungleichgewicht des Mischverhältnisses des Blutes, der gelben Galle, der schwarzen Galle und des Schleims verursacht wird.  

Erst 1658 geht Johann Jacob Wepfer, der als Arzt in Schaffhausen praktiziert, den Ursachen auf den Grund. Er seziert die Leichen von Personen, die an einem Schlaganfall gestorben sind, und erkennt zwei Formen der Erkrankung, die auch in der modernen Medizin unterschieden werden.

Johann Jacob Wepfer

Knapp 85 Prozent aller Schlaganfälle werden durch einen sogenannten ischämischen Insult ausgelöst. Dabei verstopft ein Blutgerinnsel ein Gefäß im Gehirn, wodurch bestimmte Areale des Organs nicht mehr durchblutet werden. Ist die Erkrankung hingegen Folge einer Hirnblutung, sprechen Mediziner von einem hämorrhagischen Schlaganfall. Die Behandlung dieser beiden Formen der Erkrankung unterscheidet sich grundlegend. Daher muss schnellstmöglich geklärt werden, um welche Art Schlaganfall es sich handelt. 

Lange Zeit konnte man nur anhand äußerer Symptome wie Lähmungserscheinungen versuchen, eine Diagnose zu stellen. Erst mit der Entdeckung der Röntgenstrahlen am 8. November 1895 ergeben sich völlig neue Einblicke in die Körper lebender Menschen. Viele Krankheiten sind nun wesentlich schneller und zuverlässiger zu diagnostizieren. Doch die Abbildung des Gehirns mittels Röntgenstrahlen stellt eine besondere Herausforderung dar. Umgeben vom Schädelknochen, Hirnhäuten und der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit ist unser Gehirn gut geschützt. Genau diese Schutzhülle beeinträchtig die Bildqualität anfangs stark. Die Entwicklung spezieller Geräte und Untersuchungsmethoden gibt allmählich den Blick auf das Gehirn und dessen Gefäßsystem frei. Die Untersuchungen sind allerdings umständlich, zum Teil langwierig und für den Patienten äußerst unangenehm. Zum Durchbruch in der Schlaganfalldiagnostik führt in den 1970er Jahren die Entwicklung der Computertomographie - Mit der CT wird es erstmals möglich, schnell und zuverlässig zu unterscheiden, ob eine Durchblutungsstörung oder eine Hirnblutung vorliegt. Durch das Aufkommen der Magnetresonanztomografie und der Doppler- und Duplexsonographie können weitere Informationen rund um den Schlaganfall gewonnen werden. Doch was hilft die präziseste Diagnostik ohne Behandlungsmöglichkeiten? Noch bis Mitte der 1990er Jahre gibt es keine wirksame Therapie, um den akuten Schlaganfall zu behandeln.

Ausgangspunkt für die Entwicklung einer medikamentösen Behandlung des ischämischen Schlaganfalls sind die Forschungen des belgischen Molekularbiologen Désiré Collen in den 1970er Jahren. Er geht der Frage nach, wie man Blutgerinnsel auflösen kann, und entwickelt die Substanz Alteplase rt-PA (recombinant tissue plasminogen activator), welche das Gerüst des Thrombus abbauen und ihn so zersetzen kann. Seit Mitte der 1990er Jahre kommt das Medikament in der Lysetherapie (griechisch: Lysis = Auflösung) zur Akutbehandlung des Schlaganfalls zum Einsatz. Etwa 50 bis 60 Prozent der Gefäßverschlüsse können so beseitigt und die Blutversorgung des betroffenen Bereiches des Gehirns wiederhergestellt werden. Allerdings ist die Lysetherapie nicht für jeden Patienten geeignet und muss im Zeitfenster von 4,5 Stunden nach dem Schlaganfall zum Einsatz kommen.

Dank der Pionierarbeit von Medizinern wie Werner Forßmann, Charles Dotter und Andreas Grüntzig zur Interventionellen Radiologie steht seit etwa 2008 neben der Lysetherapie eine weitere Möglichkeit zur Behandlung von Gefäßverschlüssen zur Verfügung - die mechanische Thrombektomie. Dabei wird unter Röntgenkontrolle ein Katheter über die Leiste durch die Halsschlagader bis zum Blutgerinnsel, welches das Hirngefäß verschließt, vorgeschoben. Das Blutgerinnsel kann dann mit einem sogenannten StentRetriever - einem körbchenartigen Drahtgeflecht, das im Katheter verläuft - entfernt oder mit einem speziellen Aspirationskatheter - einer Art winzigem Staubsauger - abgesaugt werden. Obwohl bei der mechanischen Thrombektomie mit einem Zeitfenster von etwa 24 Stunden etwas mehr Zeit zwischen dem Eintreten des Schlaganfalls und der Behandlung bleibt als bei der Lyse und beide Verfahren auch kombiniert werden können, gilt immer – Time is brain! Denn je schneller ein Patient nach dem Eintreten der ersten Symptome behandelt wird, desto besser stehen seine Chancen, dass keine bleibenden Einschränkungen auftreten. 

Der rasante Fortschritt bei den Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Sterblichkeitsrate nach einem Schlaganfall in den letzten 30 Jahren deutlich zurückgegangen ist. Durch rasches Handeln und optimierte Arbeitsabläufe können die Folgen erheblich gemindert werden. Trotzdem ist der Schlaganfall noch immer weltweit die zweithäufigste Todesursache. Deshalb wird in Zukunft weiter daran gearbeitet, die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern und die Prävention voranzutreiben. Gerade die mechanische Thrombektomie ist ein vielversprechender Ansatz. Noch gibt es relativ wenige Experten, die diesen Eingriff durchführen können. Mithilfe künstlicher Intelligenz und robotergestützter Systeme könnten in Zukunft weltweit Schlaganfallpatienten von dieser Methode profitieren. 


Katharina Schroll-Bakes
Katharina Schroll-Bakes
Von Katharina Schroll-Bakes

Spezialistin für Historische Kommunikation und Historikerin im Siemens Healthineers Historical Institute