Bildgebung

Unser Gehirn – eine der größten Herausforderungen für die Röntgentechnik 

Seitliche Ansicht der im Schädel gelegenen Gefäßstrukturen; Cinematic-Rendering-Darstellung auf der Basis von Bilddaten aufgenommen mit einem C-Bogen für die Angiographie

Seitliche Ansicht der im Schädel gelegenen Gefäßstrukturen; Cinematic-Rendering-Darstellung auf der Basis von Bilddaten aufgenommen mit einem C-Bogen für die Angiographie
Quelle: 2016 I Siemens Healthineers AG / Universitätsmedizin Göttingen, Prof. Dr. med. Michael Knauth / PD Dr. med. Marios Psychogios, Göttingen, Deutschland

4min
Ingo Zenger
Veröffentlicht am April 1, 2021
Das menschliche Gehirn besteht aus Wasser und Erde – vermutet der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles, als er sich Gedanken über die rätselhaften Organe und Körperteile der Menschen macht. Heute – knapp 2.400 Jahre später – kennen wir zahlreiche faszinierende Fakten über unser Nervensystem und die etwa 1,4 Kilogramm schwere, geleeartige Masse in unserem Kopf.

Unser Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen, die über etwa 100 Billionen Verknüpfungen miteinander in Kontakt stehen. Die Nervenbahnen eines Erwachsenen sind insgesamt zirka 5,8 Millionen Kilometer lang und würden 145-mal um die Erde reichen. Unser zentrales Nervensystem steuert die Abläufe im Körper über elektrochemische Signale, die sich mit mehr als 300 Stundenkilometern durch unser Gehirn und unser Rückenmark bewegen. Solch komplexe Strukturen mithilfe von Röntgenstrahlen so exakt sichtbar zu machen, dass Mediziner die Bilder bei der Diagnose von Krankheiten zu Hilfe nehmen können, ist eine enorme technische Herausforderung. 

Am 8. November 1895 entdeckt Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen und kurze Zeit später entstehen mit einer Aufnahmezeit von einer Stunde erste Abbildungen des Schädels, auf denen sich beispielsweise nach einer Schussverletzung grob einschätzen lässt, wo im Inneren des Kopfes die Kugel steckt.

Zwei Röntgenaufnahmen aus dem Jahre 1898, mit denen der Sitz einer Kugel im Kopf eines Patienten möglichst genau bestimmt werden soll

Doch erst zwei Jahrzehnte und mehr als 200 versuchte Methoden später lässt sich das Gehirn mithilfe der Röntgenstrahlen relativ aussagekräftig untersuchen: Bei der Pneumoenzephalografie wird dem Patienten an der Lendenwirbelsäule Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit entnommen und durch Luft, Gas oder Jodöl ersetzt. Auf der anschließenden Röntgenaufnahme hebt sich die Luft relativ deutlich vom Gehirngewebe ab. So lassen sich neben Tumoren beispielweise Schwellungen, unter bestimmten Voraussetzungen sogar Gehirnblutungen sichtbar machen und beurteilen. Die Nebenwirkungen der Pneumoenzephalografie sind jedoch beträchtlich. Abgesehen von tagelangem Erbrechen und schweren Kopfschmerzen kann es nach der Pneumoenzephalografie zu Krampfanfällen oder gar Gehirnentzündungen kommen.  

Bis in die 1970er Jahre bleibt die Pneumoenzephalografie das wichtigste Hilfsmittel zur Lokalisation von Gehirntumoren; die eigens dafür konstruierten Röntgengeräte – wie der Siemens MIMER III – sind zu dieser Zeit auf einem bemerkenswert hohen technischen Niveau, mit zahlreichen automatischen Programmabläufen und auf die Abbildung des Gehirns optimierten Röntgenröhren. Doch Siemens entwickelt die ausgereiften Spezialfunktionen zur Pneumoenzephalografie im MIMER III nicht weiter – denn eine völlig neuartige, unerwartete Erfindung sollte die schmerzhafte Prozedur bald überflüssig machen: die Computertomographie.  

Untersuchung des Gehirns mit Siemens MIMER III und Rotationsstuhltisch RCT-3 im Jahre 1969

Die Computertomographie verändert die Neuroradiologie von Grund auf, innerhalb kürzester Zeit wird sie zur bevorzugten Methode bei Untersuchungen des Gehirngewebes. Bereits zwei Jahre nach dem Schädelscanner SIRETOM stellt Siemens seinen ersten Ganzkörper-CT vor, das SOMATOM. Nun können die Neurologen auch Schnittbilder des Rückenmarks und anderer Strukturen des Nervensystems für ihre Diagnosen zur Hilfe nehmen.

Der Prototyp des ersten CT-Scanners in der Geschichte von Siemens Healthineers: Der Schädelscanner SIRETOM im Jahre 1974

Die Qualität der Abbildung steigt dabei innerhalb weniger Jahre enorm, wie ein Blick auf die beiden folgenden Gehirnaufnahmen zeigt. Das linke Bild stammt aus dem Jahre 1974, das rechte ist mit dem SOMATOM des Jahres 1983 aufgenommen. Zwar kann der Arzt bereits auf dem älteren Bild größere Tumoren oder Blutungen erkennen und lokalisieren, doch knapp zehn Jahre später sind sogar Details des Gehirns und die Sehnerven deutlich sichtbar.

Zwischen 1974 und 1983 ist die Qualität der Gehirnaufnahmen enorm gestiegen

Mit modernen bildgebenden Verfahren können Störungen heute sehr genau erkannt und Veränderungen wie Tumoren millimetergenau lokalisiert werden. Mithilfe der Röntgenstrahlen machen moderne Angiographie-Systeme wie das ARTIS icono auch Regionen nahe der Schädeldecke und Schädelbasis fast ohne Bildstörungen sichtbar.

Artis icono

In der sogenannten Präzisionsmedizin kommen robotergestützte, minimalinvasive Verfahren zum Einsatz, die die Behandlungszeiten verkürzen und die Genauigkeit während der Behandlung erhöhen. Das Zusammenspiel von exakter Bildgebung und hochpräziser Robotertechnik – unterstützt durch die zunehmende Digitalisierung und Künstliche Intelligenz – wird die Therapien in den nächsten Jahren weiter verbessern.


Ingo Zenger
Ingo Zenger
Von Ingo Zenger

Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute