Bildgebung

„Der Röntgen ist wohl verrückt geworden“ 

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen

4min
Ingo Zenger
Veröffentlicht am November 8, 2022

Das 19. Jahrhundert ist die große Zeit der wissenschaftlichen Sensationen. Nie zuvor in der Geschichte wurde so viel entdeckt und erfunden, gemessen und kartographiert. Beinahe täglich berichten die Zeitungen von erstaunlichen Erkenntnissen und neuartigen elektrischen Apparaten. Gegen Ende des Jahrhunderts fahren in den Städten erste motorisierte Straßenbahnen, elektrische Laternen beleuchten Straßen und Gassen, die Menschen fahren mit Aufzügen, telegraphieren Nachrichten und lassen sich fotografieren. In einer solchen Zeit lassen sich die Menschen – so sollte man meinen – von keiner weiteren Neuigkeit allzu sehr verblüffen.  

Wilhelm Conrad Röntgen
Das „Schattenbild“ eines Gewichtssatzes im Inneren eines Kästchens Quelle: Röntgen-Gedächtnisstätte Würzburg

Das „Schattenbild“ eines Gewichtssatzes im Inneren eines Kästchens
Quelle: Röntgen-Gedächtnisstätte Würzburg



Röntgen behält seine Entdeckung zunächst für sich. Er zieht sich zurück – und wird in den folgenden Wochen kaum noch gesehen. Niemand weiß, was im Labor des Professors vor sich geht. Seine Assistenten stehen vor verschlossen Türen; seine Frau Bertha durchlebt, wie sie später erzählt, eine „schreckliche Zeit.“ Röntgen kommt zu spät und schlecht gelaunt zum Essen, spricht dabei kaum noch und rennt sofort danach zurück ins Labor. Bald lässt er sogar sein Bett in sein Arbeitszimmer bringen, und seine Frau bekommt ihn manchmal tagelang nicht zu Gesicht. Bertha erhält auf ihre Fragen, was denn los sei, zunächst keine Antwort. Erst auf ihr Drängen hin deutet Röntgen an, er tue etwas, „von dem die Leute, wenn sie es erfahren, sagen würden, der Röntgen ist wohl verrückt geworden.“

Der Ort der Entdeckung der X-Strahlen: Röntgens Labor an der Universität Würzburg Quelle: Deutsches Röntgen-Museum

Was in diesen Wochen hinter Röntgens verschlossener Labortüre vorgeht, hätte er seinen Zeitgenossen in der Tat wohl nur schwerlich glaubhaft machen können: Röntgen „durchleuchtet“ eine Holzspule und macht den darin versteckten Draht auf einer Fotographie sichtbar, er liest im Inneren einer verschlossenen Metallbüchse die Himmelsrichtung auf einem Kompass ab, und – um ein besonders merkwürdiges seiner zahlreichen Experimente zu nennen – er blickt durch eine geschlossene Tür in den Nebenraum seines Labors, indem er dort einen Leuchtschirm aufstellt. Werfen Sie selbst einen Blick in Röntgens Labor und erfahren sie mehr über seine Versuche in unserem Video „Wilhelm Conrad Röntgen“ aus dem Jahr 1968. 

Röntgens handgeschriebene erste Seite des Manuskripts zur Abhandlung „Über eine neue Art von Strahlen“. Quelle: Deutsches Röntgen-Museum

Das aufregendste dieser Bilder entsteht am 22. Dezember 1895. Röntgen bittet Bertha, ihre Hand auf eine Fotoplatte zu legen, durchleuchtet sie 15 Minuten lang mit X-Strahlen und nimmt damit eines der bekanntesten Fotos der Welt auf: Bertha Röntgens Handknochen mit dem Ehering, der um ihren Finger zu schweben scheint.

Die anfängliche Skepsis der Wissenschaftler schwindet schnell – aus einem einfachen Grund: In fast allen Physiklaboren dieser Zeit stehen ähnliche Apparate, wie sie Röntgen benutzt hat. Seine Experimente lassen sich somit ohne großen Aufwand nachstellen und bestätigen. Bereits Mitte Januar 1896 befindet sich die Welt im „Röntgenfieber“. Alles Denkbare wird durchleuchtet: Geldbörsen, Mumien, Möbel – und vor allem der menschliche Körper.

Das aufsehenerregendste der ersten Röntgenbilder: Bertha Röntgens Handknochen mit Ehering Quelle: Deutsches Röntgen-Museum
Am 10. Dezember 1901 erhält Röntgen den ersten je verliehenen Nobelpreis für Physik. Quelle: Deutsches Röntgen-MuseumAm 10. Dezember 1901 erhält Röntgen den ersten je verliehenen Nobelpreis für Physik. Quelle: Deutsches Röntgen-Museum

Am 10. Dezember 1901 erhält Röntgen den ersten je verliehenen Nobelpreis für Physik.
Quelle: Deutsches Röntgen-Museum


Ingo Zenger
Ingo Zenger
Von Ingo Zenger

Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute