Gesundheitswesen digitalisieren

Auf dem Weg zum Mond - Von den ersten digitalen Röntgenbildern zum digitalen Assistenten

Das Registrierungssystem Senis Vibe speichert während einer Katheter-Operation alle Ereignisse, Entscheidungen, Messungen und Daten, 2011
4min
Ingo Zenger
Veröffentlicht am September 1, 2022
Wenn man alle digitalen Daten, die bis ins Jahr 2020 im Gesundheitswesen angefallen sind, auf Tablets speichern würde: Wäre der Stapel niedriger oder höher als das Empire State Building?  

Auf den Tablets müsste eine schier unvorstellbare Datenmenge gespeichert werden. Eine gängige DVD hat eine Kapazität von 4,7 Gigabyte; die im Gesundheitswesen angehäuften Daten werden in Exabyte angegeben. Ein Exabyte ist eine Milliarde Gigabyte, eine Eins mit 18 Nullen. Laut Schätzungen würden sich alle Wörter, die je in der Geschichte der Menschheit gesprochen wurden, schriftlich auf etwa 5 Exabyte speichern lassen. Die Datenmenge, die bis Mitte 2020 im Gesundheitswesen entstanden ist, beträgt ungefähr 2.300 Exabyte – die übereinander gestapelten Tablets würden ein Drittel des Weges zum Mond einnehmen. Jedes Jahr wächst die Datenmenge in der Medizin um 48 Prozent, schneller als in jedem anderen digitalen Umfeld. Allein mit den Systemen von Siemens Healthineers kommen pro Stunde rund 240.000 Patienten in Berührung.

Im Mittelpunkt der Geschichte der Digitalisierung steht lange Zeit das digitale Bild. Das erste digitale Verfahren der Röntgentechnik, die Computertomographie, versetzt Anfang der 1970er Jahre die medizinische Fachwelt in Begeisterung. Digital speichern lassen sich die Ergebnisbilder der CT-Scanner zunächst jedoch ausschließlich auf Magnetbändern. Die einfachste Möglichkeit, das Bild festzuhalten, bleibt vorerst eine Polaroid-Aufnahme des Bildschirms.
In den 1980er Jahren setzt sich die erste computergestützte zweidimensionale Röntgentechnik, die Digitale Subtraktionsangiographie (DSA), zunehmend in der klinischen Praxis durch. Die digitalen Aufnahmen lassen sich zu dieser Zeit bereits auf Festplatten speichern – doch noch existiert kein standardisiertes Netzwerk, das die Bilder erfassen und beispielsweise an mehrere Spezialisten in einem Krankenhaus zur Beurteilung weiterleiten kann.

Die Digitale Subtraktionsangiographie (DSA) kann in der Angiographie „störende“ Inhalte aus dem Röntgenbild entfernen (subtrahieren), 1984

Siemens beginnt 1982 mit der Entwicklung eines PACS (Picture Archiving and Communication System), das krankenhausweit, regional oder sogar weltweit einsetzbar ist. Bis zum Durchbruch der neuen Technik sollten noch viele Jahre vergehen, doch bereits 1988, lange bevor sich PACS allgemein in der Praxis etablieren, ist die Entwicklung von Siemens in zahlreichen Kliniken in Nordamerika, in Japan und in fünf europäischen Ländern im Einsatz.

Softwareseitig sind die Fortschritte in den 1990er Jahre so riesig, dass sich die Siemens-Systeme des Jahres 1990 praktisch kaum noch mit denen des Jahres 2000 vergleichen lassen. Beispielsweise errechnet die Software CARE (Combined Applications to Reduce Exposure) ab 1994 bei CT-Aufnahmen für jeden Patienten individuell die kleinstmögliche Dosis bei bestmöglicher Bildqualität. Im Jahre 1999 vereinheitlicht Siemens mit syngo als erster Medizintechnikhersteller die Bedienung all seiner Systeme. Um die Jahrtausendwende ist auch die Hardware so ausgereift, dass sogenannte Flachbilddetektoren den analogen Röntgenfilmen in der Aufnahmequalität mindestens ebenbürtig sind. Was ausgeklügelte Software aus der richtigen Hardware herausholen kann, lässt sich eindrucksvoll an den Bildern des Cinematic Rendering1 zeigen. 

Schilddrüse und Knochen der Kopf- und Halsregion, dargestellt mit Cinematic Rendering im Jahre 2015 Copyright: Radiologie im Israelitischen Krankenhaus, Hamburg, Germany

Heute, 125 Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen, spielt Software eine immer wichtigere Rolle dabei, Diagnosen und Therapien weiter zu verbessern. Um die enorme Menge an digitalen Daten konstruktiv und hilfreich einzusetzen, entwickeln unsere Ingenieure derzeit zahlreiche neue Werkzeuge. Aus Big Data muss Smart Data werden. Der einfache Zugang zu allen Untersuchungsergebnissen eines Patienten kann sich entscheidend auf die diagnostische Sicherheit auswirken. Ein Patient mit einem Lungentumor, zum Beispiel, durchläuft bei der Diagnose und Therapieplanung mindestens sechs verschiedene Abteilungen, in denen mehrere Diagnoseberichte erstellt werden.  Um all diese Daten – etwa aus der Radiologie, der Pathologie und dem Labor – aus den verschiedenen Silos zusammenzuführen und in eine einheitliche Arbeitsumgebung zu integrieren, hat Siemens Healthineers die Plattform Syngo Carbon2 entwickelt. Bei Syngo Carbon handelt es sich um ein Bild- und Datenmanagementsystem, das weit über klassische PACS hinausgeht. Mithilfe von KI-Werkzeugen und Automatisierung organisiert Syngo Carbon alle Befunddaten rund um den Patienten, selbst wenn er mit Lösungen von Drittanbietern untersucht wurde. 

syngo Carbon

Zusätzlich unterstützen bereits heute speziell trainierte künstliche Intelligenzen bei klinischen Entscheidungen. Als wichtiger Teil von Syngo Carbon hilft beispielsweise der intelligente Software-Assistent der AI-Rad Companion Chest CT in der Radiologie, potenziell krankhafte Veränderungen des Gewebes zu erkennen. Nach all den technischen Fortschritten seit Wilhelm Conrad Röntgens Entdeckung der X-Strahlen bietet die künstliche Intelligenz heute die Möglichkeit, die menschlichen Fähigkeiten zu ergänzen. In Zukunft werden immer leistungsfähigere Software-Anwendungen dabei helfen, die Flut an medizinischen Daten schnell und präzise zu verarbeiten. Die Digitalisierung hat das Potential, die Medizin in ebenso großem Maße zu verändern wie die Entdeckung der Röntgenstrahlen.


Ingo Zenger
Ingo Zenger
Von Ingo Zenger

Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute