SRW-Büro Empire State Building, 1960

Vom kleinen Büro im Empire State Building zu einem der größten Medizintechnikhersteller des Landes

Die Geschichte von Siemens Healthineers in den USA
Katharina Schroll-Bakes
Veröffentlicht am 1. Juni 2025

Es sei „wirklich eine Sünde“, den US-amerikanischen Markt unbeachtet zu lassen, schreibt Werner von Siemens im Mai 1881 an seinen Bruder William. Also beginnt Siemens & Halske (S&H) Kontakte in den USA zu knüpfen und Vertreter für die Firmeninteressen im Land zu finden. Etwa zeitgleich streckt auch das Erlanger Medizintechnikunternehmen Reiniger, Gebbert & Schall (RGS) seine Fühler über den Atlantischen Ozean Richtung Amerika aus. 1886 gründet RGS ein Büro in New York. Doch die protektionistische Wirtschaftspolitik der USA erschweren es den beiden Unternehmen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Fuß zu fassen. Im Laufe der Zeit werden immer wieder Gesetze erlassen, die Produkte aus dem Ausland mit hohen Schutzzöllen belegen. Nachdem das Smoot–Hawley-Zollgesetz im Juni 1930 die Zölle für über 20.000 Produkte auf ein Rekordniveau anhebt, wird ein Zollsatz von 40 Prozent auf alle eingeführten Röntgenartikel fällig. Erschwerend hinzu kommt, dass in den USA von Anfang an eine eigene Röntgenindustrie existiert. 

Auch nachdem RGS im Jahr 1925 von S&H übernommen wird und beide Unternehmen ihre Kräfte im Medizintechnikbereich bündeln, indem sie 1933 die Siemens-Reiniger-Werke gründen (SRW), bleibt der amerikanische Markt eine Herausforderung. Zu groß ist der Konkurrenzdruck durch die amerikanischen Röntgentechnikhersteller, die über ein sehr gut entwickeltes und flächendeckendes Vertriebsnetz verfügen. Zu dieser Zeit werden die SRW von der Adlanco Industrial Products Corporation vertreten, die sich im Herzen von New York in der Lafayette Street befindet. 

Adlanco Industrial Products Corporation

Geprägt wurde das geflügelte Wort „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ von Ludwig Max Goldberger. Nachdem der Bankier und Wirtschaftspolitiker 1901 eine Studienreise in die USA unternommen hatte, fasste Goldberger seinen Beobachtungen über das Wirtschaftsleben in den Vereinigten Staaten von Amerika zusammen und sprach erstmals vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Begriff entwickelte sich dann zum Sinnbild für die USA als ein Land, in dem es so scheint, als ob jeder seine Träume verwirklichen kann. 

Die rund 15 Mitarbeiter*innen der Adlanco geben ihr Bestes, um die Siemens Medizintechnik bei der amerikanischen Ärzteschaft bekannter zu machen. Ein Durchbruch gelingt den SRW auf dem Internationalen Röntgenkongress (ICR) in Chicago im Jahr 1937. Dort können sich die SRW endlich einen Namen unter den amerikanischen Besuchern machen, wie der SRW-Mitarbeiter Heinrich Franke berichtet: „Selbstverständlich ist der Name Siemens-Reiniger den Europa-Besuchern unter den amerikanischen Ärzten wohl bekannt, nunmehr wurden aber auch weite Kreise erfasst, für die das Wort Siemens-Reiniger bis dahin noch kein Begriff gewesen ist.“ Für die nächsten 13 Jahre sollte der ICR die letzte Gelegenheit sein, bei der Siemens seine Medizintechnik auf der Weltbühne präsentieren kann. Während des Zweiten Weltkrieges kommen die Geschäftsbeziehungen zu den USA, die sich das Unternehmen mühsam aufgebaut hatte, komplett zum Erliegen. 

Internationalen Röntgenkongress (ICR) in Chicago im Jahr 1937

Nach dem Ende des Krieges müssen die SRW in den USA bei Null anfangen. Um das US-Geschäft wieder anzukurbeln, entsendet das Unternehmen 1953 den erfahrenen Mitarbeiter Franz-Josef Bartlewski. Er richtet ein Büro im Empire State Building ein und bereist von dieser Basis aus das ganze Land: „Zwei Jahre von Ort zu Ort, ohne ein Zuhause, heute Wanderprediger, morgen Wandermonteur. Langsam kamen die Aufträge, weiteten sich die Aufgaben, wuchs die SRW-Gemeinde.“ Bartlewski‘s unermüdlicher Einsatz zahlt sich aus, wie er 1960 treffend formuliert: 



Franz-Joseph Bartlewski

Empire State Building, 1960

Natürlich ist es eindrucksvoll, den Sitz der Firmenvertretung im zu dieser Zeit höchsten Gebäude der Welt zu haben.  Jedoch bietet das Empire State Building schlichtweg keinen Raum für neue Werkstätten und Lagerräume. Also verlegen die SRW den Sitz ihrer Vertriebsgesellschaft nach Union, New Jersey, einem ruhigen Ort rund 30 km vom New Yorker Stadtzentrum entfernt. Unter dem Motto „Ausbau und Erweiterung“ nimmt das US-Geschäft der SRW in den 1960er Jahren weiter Fahrt auf. Das spiegelt sich auch in den Mitarbeiterzahlen wider. Bis 1968 ist die US-Belegschaft bereits auf 269 Mitarbeiter*innen angewachsen. 

Ein entscheidender Meilenstein ist die Eröffnung des ersten Werks für Siemens Medizintechnik in den USA im Jahr 1970. In der Fabrik in Union werden zu Beginn Geräte für die Röntgendiagnostik gefertigt: der Klinograph 2 in einer speziellen US-Version sowie der Heliophos 600. Durch Zusammenschlüsse kommen ab 1974 zahlreiche neue Fertigungsstandorte in den USA hinzu. Von Washington State bis Kalifornien an der Westküste, über Illinois, Tennessee bis nach New Jersey und Connecticut an der Ostküste – bald finden sich über das ganze Land verteilt Standorte der Siemens Medizintechnik. 

2021 erfolgt ein weiterer bedeutender Zusammenschluss. Aufbauend auf einer langjährigen Zusammenarbeit schließen sich Siemens Healthineers und Varian Medical Systems mit Sitz in Palo Alto, Kalifornien, im April 2021 zusammen. „Mit dem Abschluss dieser Transaktion sind wir nun hervorragend positioniert, um gemeinsam zwei Sprünge zu machen: einen Sprung in der Krebsbehandlung und einen Sprung in unserer Bedeutung für die Gesundheitsversorgung insgesamt. Gemeinsam schaffen wir einen starken und verlässlichen Partner, der in der Lage ist, Kunden und Patienten während der gesamten Versorgungskette der Krebsbehandlung sowie über alle wichtigen klinischen Pfade hinweg zu unterstützen“, fasst Bernd Montag, CEO von Siemens Healthineers, die Bedeutung der Akquisition zusammen.

Während Bartlewski 1953 gemeinsam mit einer Schreibkraft beginnt, die Siemens Medizintechnik unter den amerikanischen Kund*innen bekannt zu machen, arbeiten mittlerweile rund 17.000 Mitarbeiter*innen bei Siemens Healthineers in den USA. Heute ist Siemens Healthineers in über 75 Ländern vertreten. Neben Deutschland arbeiten in keinem anderen Land der Welt so viele Menschen für unser Unternehmen wie in den USA.  Aus einer Vertretung in einem kleinen New Yorker Büro hat sich Siemens Healthineers zu einem der größten Medizintechnik-Hersteller der USA entwickelt. Dort haben die Geschäftsgebiete Diagnostics, Molekular Imaging, Strahlentherapie und Ultraschall ihren Hauptsitz. Die insgesamt rund 90 US-Standorte von Siemens Healthineers, sind über das ganze Land verteilt und umfassen Forschungs- und Entwicklungszentren, ein AI-Center, ein Ausbildungszentrum, Service- und Vertriebsbüros sowie Fertigungen. Viele Produkte von Siemens Healthineers wie PET/CTs, SPECT/CTs, Strahlentherapiesysteme, Ultraschallgeräte und ein breites Spektrum an Systemen und Tests für die Labordiagnostik tragen heute die Herkunftsbezeichnung „Made in USA“.


Katharina Schroll-Bakes
Katharina Schroll-Bakes
Von Katharina Schroll-Bakes

Spezialistin für Historische Kommunikation und Historikerin im Siemens Healthineers Historical Institute