Onkologie

Pioniere der Strahlentherapie 

Ein Blick in die Geschichte

10min
Ingo Zenger
Veröffentlicht am April 1, 2023

Siemens Healthineers und Varian haben sich im Jahr 2021 zu einem Unternehmen zusammengeschlossen. Die gemeinsame Geschichte reicht jedoch viel weiter zurück. Mitte des 20. Jahrhunderts forschen beide Unternehmen an der bestmöglichen Technologie für die Strahlentherapie als Behandlungsmethode bei Krebserkrankungen. Dabei stellt sich der Linearbeschleuniger als die richtungsweisende Technologie heraus. 1969 beginnt eine Zusammenarbeit zwischen Varian und Siemens, die sich im Laufe der Jahre zu einer ergänzenden Partnerschaft entwickelt und in den Zusammenschluss unter dem Dach von Siemens Healthineers im April 2021 mündet. 

In der Historie von Siemens Healthineers spielt die Weiterentwicklung der medizinischen Bildgebung eine tragende Rolle. Bereits im Januar 1896, wenige Tage nach Bekanntwerden von Wilhelm Conrad Röntgens Entdeckung der X-Strahlen, beginnt die Siemens-Medizintechnik mit der Entwicklung von speziellen Röntgenapparaten für die Diagnostik von Krankheiten. Im Laufe der folgenden Jahre zeigt sich immer deutlicher: Röntgenstrahlen, richtig dosiert, können die Zellteilung von Tumorgewebe verhindern und dadurch bei der Behandlung von Krebs helfen. Siemens beginnt mit ersten Versuchen, das Potenzial der X-Strahlen für die Strahlentherapie nutzbar zu machen. Auf der Suche nach der optimalen Technologie sollten in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Ansätze erdacht werden. 

In den 1910er Jahren – der Frühzeit der Strahlentherapie – entwickelt Siemens den sogenannten Reformapparat. In diesem Gerät kommen erstmals Methoden zum Einsatz, die noch heute in der Strahlentherapie Anwendung finden, etwa die gezielte Bestrahlung der Tumoren aus mehreren Richtungen. 

Ab 1942 konstruiert der Siemens-Physiker Konrad Gund in Erlangen eine technisch enorm aufwendige Anlage: Das Betatron beschleunigt mittels eines Elektromagneten auf einer Kreisbahn Elektronen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit und bremst sie anschließend ruckartig ab. Durch das Bremsen der Teilchen entstehen hochenergetische Röntgenstrahlen, die auf Tumoren im Körperinneren gelenkt werden. Betatrons entwickeln sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur bevorzugten Methode der Strahlentherapie. 

Betatron beim ICR 1950 mit Queen Elizabeth

Neben den aufwendigen Betatrons entwickelt Siemens Ende der 1950er Jahre Apparate, die das radioaktive Element Kobalt als Strahlenquelle nutzen. Die Radioaktivität erzeugt Gammastrahlen, die in der Krebstherapie in vielen Fällen wirksamer sind als die Elektronenstrahlen des Betatrons. Zur gleichen Zeit arbeitet Varian in Kalifornien an der Umsetzung eines Konzepts, das sich schließlich als optimale Technologie für die Strahlentherapie erweisen sollte: die Erzeugung präziser und energiereicher Strahlen durch Linearbeschleuniger (kurz: LINAC, abgeleitet vom englischen Wort linear accelerator).

Siemens Healthineers Gammatron S65 1972

Universität Stanford, 5. Juni 1937: Russell Varian hat eine Idee, die die weitere Entwicklung zahlreicher Technologien entscheidend prägen sollte. Er arbeitet zu dieser Zeit gemeinsam mit seinem Bruder Sigurd und dem Stanford-Physiker William W. Hansen an einer Möglichkeit, die Navigation im Luftverkehr zu verbessern. Sie wollen Flugzeuge in der Dunkelheit und bei schlechtem Wetter „sichtbar“ machen. Zur Ortung benötigen sie einen Generator, der Radiowellen in sehr kurzen Wellen aussenden kann. Russells Idee beruht darauf, den Elektronenstrom zu bündeln, um Mikrowellen zu erzeugen. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von allen anderen damals bekannten Methoden. Die Varians und Hansen taufen das Gerät auf den Namen Klystron, abgeleitet vom altgriechischen Verb klyzo, das die Bewegung der Wellen am Strand beschreibt. Im Frühjahr 1939 verkündet Stanford-Präsident Ray Lyman Wilbur der Öffentlichkeit die Erfindung „einer leistungsstarken neuen Senderöhre.“

Russell und Sigurd Varian mit Klystron

Einer der ersten Wissenschaftler in Stanford, die mit der neuen Hochleistungsröhre arbeiten können, ist ein Student der Elektrotechnik namens Edward Ginzton. Als Mitglied einer Forschergruppe testet Ginzton die Möglichkeiten des Klystrons in Funknetzen, Radaranlagen und in verschiedenen anderen Technologien. „Fast alles, was wir versucht haben, hat sofort und ziemlich gut funktioniert“, erinnert er sich einige Jahre später. Das Klystron verändert fortan nicht nur die weitere Entwicklung der Mikrowellen- und der Kommunikationstechnik und zahlreicher weiterer Technologien; die gemeinsamen Arbeiten der Varians und der Wissenschaftler der Universität Stanford führen auch zu dem Entschluss, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Mit an Bord, unter anderem: Sigurd, Russell und seine Frau Dorothy, Edward Ginzton und William W. Hansen.

Das Gründungsteam von Varian Associates, von links: Russell und Sigurd Varian, Marvin Chodorow, Dorothy Varian, Richard Leonard, Esther Salisbury, Edward Ginzton, Fred Salisbury, Don Snow, und Myrl Stearns.

Am 20. April 1948 unterschreiben die Direktoren die Gründungsurkunde. Rund zwei Monate später, mit einem Startkapital von 22.000 Dollar und einer Handvoll Werkzeuge, nehmen die Varian Associates die Arbeit auf. Das in der Gründungsurkunde erklärte Ziel: „Forschungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften jeglicher Art durchzuführen.“ Ausdrücklich erwähnt werden Technologien rund um Wärme, Schall, Licht, Optik, Röntgenstrahlen, geladene Teilchen, ionisierende Strahlung, Elektrizität, Vakuumtechnik, Magnetismus, Chemie und noch viele mehr. Rund 40 Jahre später ist Varian einer der größten Technologie-Pioniere der Welt und belegt Platz 3 auf der Liste der Unternehmen im Silicon Valley mit den meisten Patentanmeldungen.

Innovationen von Varian spielten in der Geschichte zahlreicher Technologien eine entscheidende Rolle: Die Einführung der Klystron-Röhre, zum Beispiel, hat unter anderem die Entwicklung der Fernseh- und Satellitentechnik entscheidend geprägt. Im Jahre 1949 bringt Varian das weltweit erste Instrument auf den Markt, das mithilfe der Magnetresonanz die Eigenschaften und Wechselwirkungen von Materie analysieren kann – ein bedeutender Beitrag zur analytischen Chemie und eine technologische Grundlage der modernen Magnetresonanztomographie. Der Chemiker Richard Ernst erhält im Jahre 1991 den Nobelpreis für seine Arbeit zur Magnetresonanz-Spektroskopie, die er 1963 als Angestellter bei Varian begonnen hat. Zu den bekanntesten Erfindungen von Varian zählt das Magnetometer, mit dem sich Mitte der 1950er Jahre erstmals das Magnetfeld der Erde präzise messen lässt. 1988 wird das Unternehmen für die Entwicklung einer energieeffizienten Fernsehsenderöhre mit dem Emmy Award ausgezeichnet. Heute ist Varian vor allem für seine Innovationen In der Medizintechnik bekannt. Bereits kurz nach der Gründung hat Varian einen Weg eingeschlagen, der das Unternehmen zum führenden Anbieter von Systemen für die Strahlentherapie gemacht hat.

Anfang der 1950er Jahre arbeiten Varian und die Universität Stanford gemeinsam an einer riesigen Anlage, die in der Teilchenphysik zur Erforschung von Atomen eingesetzt werden soll. Der knapp 70 Meter lange Linearbeschleuniger geht in die Geschichte von Wissenschaft und Technik ein: Der Stanford-Professor Robert Hofstadter erhält für seine Forschungen mit dieser Anlage einige Jahre später den Nobelpreis für Physik; der Stanford-Professor und Radiologe Henry Kaplan wird durch den LINAC zu einem Vorschlag inspiriert, der die Erfindung der modernen Strahlentherapie einläutet. Kaplan lädt Edward Ginzton zum Mittagessen ein und schlägt vor, einen medizinischen Linearbeschleuniger speziell für die Krebstherapie zu entwickeln. Ginzton überzeugt die anderen Direktoren bei Varian, trotz der enormen Kosten des Projekts. Rund fünf Jahre später, im Januar 1956, kommt die „Stanford Cancer Gun“ erstmals in der Klinik der Universität in San Francisco zum Einsatz. Die nächste Herausforderung, vor der Varian nun steht, ist den klobigen und unbeweglichen Prototyp zu einem kompakte und leichten System weiterzuentwickeln, das sich schnell in Kliniken installieren lässt.  

1960, nach vier Jahren Weiterentwicklung zum klinischen System, liefert Varian die ersten Modelle des „Clinac 6“ an das UCLA Medical Center in Los Angeles und an Henry Kaplan in Stanfords Campus in Palo Alto. 

Varian Clinac 6

In mehrerlei Hinsicht ist dieses erste Modell den zu dieser Zeit gängigen Kobaltgeräten deutlich überlegen. Der von einem Klystron erzeugte Therapiestrahl erreicht mit Energien von 6 Millionen Volt auch sehr tief liegende Tumoren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Strahlentherapie lässt sich die Gantry um 360 Grad um den Patienten drehen. Varian investiert von nun an enorme Ressourcen in die Weiterentwicklung der Clinac-Systeme. Für Varian-Mitbegründer Edward Ginzton war die Entwicklung des ersten medizinischen Linac eine Herzensangelegenheit, denn sein Vater war einige Jahre zuvor an einer Krebserkrankung gestorben. 

Kobaltgeräte lassen sich zu dieser Zeit jedoch deutlich wirtschaftlicher betreiben als Linearbeschleuniger. Beide Technologien existieren in den folgenden Jahren nebeneinander – und so kommt es zur ersten Kooperation zwischen Varian und Siemens. Im Jahre 1969 schließen Varian und Siemens erstmals einen Vertrag über eine Zusammenarbeit in der Krebstherapie. Im Laufe der Jahre erweitern beide Unternehmen ihre Kooperation auf andere Disziplinen. 1988 gründen Varian und Siemens das gemeinsame Unternehmen SISCO (Spectroscopy Imaging Systems Corporation), um in Entwicklung, Fertigung und Vertrieb von bildgebenden MR-Spektrometern zusammenzuarbeiten, die in der Industrie, der Medizin und verschiedenen Naturwissenschaften zum Einsatz kommen.

Zu diesem Zeitpunkt hat Varian seinen Vorsprung in der Strahlentherapie bereits erheblich ausgebaut. Durch Innovationen wie den ersten kommerziell erhältlichen Multilamellenkollimator und die Entwicklung der intensitätsmodulierten Strahlentherapie (IMRT) ist Varian zum weltweit führenden Hersteller von Strahlentherapie-Systemen für die Behandlung von Krebserkrankungen aufgestiegen. Dabei hat sich das Geschäftsgebiet Strahlentherapie im Laufe der Jahre vom Nebenprojekt zu einer tragenden Säule des Unternehmens entwickelt. 

Anfang des neuen Jahrtausends stellt Varian die Dynamic Targeting™ Image Guided Radiation Therapy (IGRT) vor. Bei der bildgesteuerte Strahlentherapie ist der Linearbeschleuniger mit einem Röntgen-System kombiniert.

2012 steigt die Siemens-Medizintechnik aus der Entwicklung eigener Linearbeschleuniger aus. Im April dieses Jahres verkünden Varian und Siemens ihre neue weltweite strategische Partnerschaft in der Strahlentherapie und Radiochirurgie. Varian bietet radioonkologischen Kliniken fortan bildgebende Systeme wie Computertomographen, Magnetresonanztomographen und Positronen-Emissions-Tomographen von Siemens an; Siemens wiederum offeriert seinen Kunden Varians Portfolio an Strahlentherapie- und Radiochirurgie-Systemen. Gemeinsam stellen beide Unternehmen Lösungen bereit, die den gesamten klinischen Ablauf abdecken – von der Erstdiagnose bis zur Nachsorge. Sie beschließen, künftig gemeinsam an neuen Lösungen für die Bildgebung und die Therapie zu arbeiten, die die Stärken beider Unternehmen in sich vereinen. In den folgenden Jahren verfestigt sich die Partnerschaft zunehmend. Bereits 2013 können Varian und Siemens verkünden, dass im Therapiezentrum der Ohio State University die erste gemeinsam entwickelte Software installiert worden ist, die bestimmte Systeme beider Unternehmen nahtlos miteinander verbindet.

Am 2. August 2020 geben Siemens Healthineers und Varian Medical Systems den Abschluss einer Vereinbarung bekannt, der zufolge Siemens Healthineers sämtliche Aktien von Varian zu einem Gesamtpreis von rund 16,4 Milliarden US-Dollar erwerben wird. Der erfolgreiche Abschluss des Zusammenschlusses kann bereits im April 2021 verkündet werden. „Mit dem transformativen Zusammenschluss von Varian und Siemens Healthineers adressiert das kombinierte Unternehmen den wachsenden Bedarf an personalisierter und datengesteuerter Diagnose sowie an Präzisions-Krebsbehandlung, die es uns ermöglicht, gegen weltweit steigende Krebsraten anzukämpfen“, erklärt Chris Toth als neuer Leiter der Business Area Varian von Siemens Healthineers. „Indem wir unsere einzigartigen und hochkomplementären Portfolios und Fähigkeiten zusammenführen, unterstützen wir Ärzt*innen und Patient*innen in der Onkologie dabei, bessere Ergebnisse zu erzielen und kommen unserer Vision von einer Welt ohne Angst vor Krebs noch näher."

Die Innovationen, die Varian in den vergangenen 75 Jahren entwickelt hat, haben die Geschichte der Strahlentherapie maßgeblich beeinflusst. Seit dem Zusammenschluss erreichen Varian und Siemens Healthineers gemeinsam jedes Jahr mehr als 400 Millionen Patient*innen rund um den Globus. Der Zusammenschluss hat die gemeinsame Vision für die Zukunft – und was wir für Patientinnen und Patienten erreichen können – nochmals deutlich erweitert und viel umfassender werden lassen. Uns eint unser gemeinsamer Unternehmenszweck: Wir leisten Pionierarbeit im Gesundheitswesen. Für jeden Menschen. Überall. 

Siemens Heatlhineers Halcyon

Ingo Zenger
Ingo Zenger
Von Ingo Zenger

Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute