Patient*innenerfahrung verbessern

Licht und Schatten 

Wie man gelernt hat, die Gefahren der Röntgenstrahlen zu bannen

6min
Manuel Schusser
Veröffentlicht am September 1, 2021
2010 röntgt der niederländische Radiologe Gerrit Kemerink an der Universitätsklinik in Maastricht eine Hand. Dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, wäre es nicht die Hand eines Verstorbenen und würde er dazu nicht eine Röntgenapparatur aus dem Jahr 1896 benutzen.

In einem abgedunkelten Raum nimmt Kemerink  die Aufnahmen vor, die „überraschend gut“ ausfallen. Anatomische Details sind klar erkennbar. Jedoch ergeben seine Messungen an dem historischen Apparat eine 1.500 Mal höhere Strahlendosis (74 mSv) als bei der Vergleichsaufnahme an einem modernen Röntgengerät. Mit bereits einer einzigen Aufnahme wird damals das 75-fache der heute für Normalpersonen empfohlenen maximalen Jahresdosis erreicht. Damit wird klar, die frühen Anwender und Patienten setzen sich sehr hohen Dosen in kurzer Zeit aus. Es war ein langer Weg bis zu unserem heutigen Wissen um die Röntgenstrahlen und ihrer verantwortungsbewussten Anwendung.

Vergleich der beiden Handaufnahmen aus dem Experiment von Gerrit Kemerink. Links mit dem Apparat von 1896, rechts mit einem modernen Röntgenapparat von 2010

Die Euphorie unmittelbar nach Bekanntwerden von Röntgens Entdeckung ist groß. Viele Physiker, Techniker und Ärzte weltweit beginnen mit Röntgenstrahlen zu experimentieren. Dabei ist ihr Umgang mit der Strahlung noch völlig unbedarft, denn man ahnt noch nichts von deren Schattenseiten. Vor allem in der Medizin nutzt man die Strahlen als diagnostisches Mittel, um Krankheiten auf die Spur zu kommen. Die Untersuchungen ähneln nur entfernt dem, was wir heute kennen. Viele Arztpraxen der Jahrhundertwende versprühen eher die Atmosphäre eines Wohnzimmers. 

Transportable Röntgeneinrichtung mit offen hängender Röhre, 1903

Der Patient begibt sich in die Untersuchungsposition, der Arzt schaltet das Röntgengerät mit der in ihrer Halterung offen hängenden Röntgenröhre ein, und die Strahlen erfüllen den gesamten Raum. Während der Aufnahme, die Minuten- bis Stunden dauern kann, sind Arzt und Patient völlig ungeschützt den Strahlen ausgesetzt.  

Bald kommt es zu ersten Berichten von den schädlichen Effekten der X-Strahlen wie Haarausfall oder Sonnenbrand. Diese Hautreaktionen werden jedoch zuerst nicht ernst genommen, vielmehr hält man die Strahlen sogar für ein ideales Mittel, um unerwünschte Haare zu entfernen. Aus dieser Beobachtung heraus entwickelt sich kurz darauf die Strahlentherapie.  

Die gravierenden Schäden werden erst mit der Zeit sichtbar, und zwar vor allem bei denen, die sich sehr häufig dieser Strahlung aussetzen: Ärzten, Krankeschwestern, aber auch Arbeitern in der Produktion von Röntgenapparaten. Bei Ihnen wird die anfängliche Hautreizung zu einer chronischen Erkrankung, die nur gelindert, aber nicht geheilt werden kann. Der Röntgenfotograf Otto Schreiber ist einer der Betroffenen. Er ist seit 1907 bei Reiniger, Gebbert & Schall (RGS) in Erlangen beschäftigt und für die Verbesserung der Aufnahmetechnik zuständig, dabei sind seine Hände häufig der Strahlung ausgesetzt. 1909 treten die ersten Strahlenschäden auf.

Sogenannte Röntgenhände

Zwischen 1900 und 1910 tritt langsam ein Wandel ein, denn der anfangs sorglose Umgang mit den Strahlen fordert nun erste Opfer. Aus den Hautschädigungen entwickelt sich oft Krebs. Das Leben vieler Röntgenpioniere endet so vorzeitig. 1924 stirbt auch Otto Schreiber im Alter von nur 37 Jahren an den Folgen der viel zu hohen Strahlenbelastung. Der Strahlenschutz rückt zunehmend in den Fokus und so ist beispielsweise auf dem ersten deutschen Röntgenkongress von 1905 der Strahlenschutz bereits ein zentrales Thema. Diverse Schutzvorrichtungen werden entwickelt und kommen auf den Markt.

Viele dieser Maßnahmen sind heute so aktuell wie damals. Noch immer verwenden Patient oder Arzt Schutzschürzen, und während der Aufnahme verlässt das Bedienpersonal normalerweise den Röntgenraum, der mittlerweile als separates Zimmer von Arbeitsplätzen und Aufenthaltsräumen baulich getrennt ist. Die Röhre hängt nicht mehr offen im Raum, sondern ist strahlensicher in einem Gehäuse verpackt und lässt über eine Blende nur noch für den Bruchteil einer Sekunde genauso viel Strahlung heraus, wie für die jeweilige Aufnahme benötigt wird. Direkte Strahlenschäden kommen dadurch praktisch nicht mehr vor.  

Seit den 1920er Jahren kann man auch die Strahlendosis exakt messen und daran arbeiten, die Strahlenbelastung zu verringern. Viele technischen Verbesserungen der Röntgenapparate in den letzten 124 Jahren führen auch zu einer Verkürzung der Aufnahmezeiten und einer Reduzierung der Strahlendosis - von besserer Aufnahmetechnik bis hin zu leistungsfähigeren Röntgenröhren. Die drastische Verkürzung der Aufnahmedauer ist ein zentraler Punkt im Strahlenschutz. So sinkt die durchschnittliche Aufnahmezeit zum Beispiel für eine Hand von 15 bis 20 Minuten im Jahr 1896 bereits auf 0,25 bis 0,5 Sekunden im Jahr 1913. Heute werden dafür nur noch ein paar Millisekunden benötigt.  

Überwachungssoftware an modernen Computertomographen helfen die Untersuchung zu optimieren, um die Strahlendosis so niedrig wie möglich zu halten. 2017

Mit der digitalen Technik ab den 1970/80er eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, die Dosis bedeutend weiter zu senken. Vor allem in der Computertomographie werden hier große Erfolge erzielt. Das SOMATOM Force von 2014 benötigt bei kompromissloser Bildqualität für die Aufnahme einer Lunge nur noch 0,1 mSv. Dies entspricht in etwa der natürlichen Strahlendosis auf einem Flug von Deutschland nach Argentinien. Grundsätzlich lässt sich sagen: Die Vorteile einer radiologischen Untersuchung überwiegen normalerweise gegenüber den geringen noch vorhandenen Risiken bei Weitem. 


Manuel Schusser
Manuel Schusser
Von Manuel Schusser

Spezialist für Historische Kommunikation und Historiker im Siemens Healthineers Historical Institute