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Eine Hochzeitsreise zu Siemens

Eine Hochzeitsreise zu Siemens
Die Geburtsstunde der Echokardiographie
Wer seiner Frau in den Flitterwochen erklärt, er müsse sie nun einige Zeit alleine lassen, um in ein Ultraschall-Forschungslabor von Siemens zu gehen, der braucht dafür wahrscheinlich eine gute Begründung. Carl Hellmuth Hertz hat glücklicherweise eine sehr gute.
Seit 1952 forscht er an der Universität Lund in Schweden zusammen mit dem Kardiologen Inge Edler an der Diagnose von Herzkrankheiten. Zu dieser Zeit steckt die Herzdiagnose noch in den Kinderschuhen. Manche Diagnosen basieren lediglich auf Gesprächen mit dem Patienten und dem Abhören mit dem Stethoskop, bei schwereren Symptomen kommen oft Untersuchungen mit dem Katheter oder Röntgenuntersuchungen mit Kontrastmitteln hinzu. Bestimmte Krankheiten lassen sich mit diesen Methoden nicht oder nur aufwendig erkennen, etwa eine Herzinsuffizienz, bei der die Herzklappe nicht richtig schließt und das Blut dadurch in die falsche Richtung läuft. Edler und Hertz stellen sich deshalb unter anderem die Frage: Wie lässt sich die Funktion der Herzklappen zuverlässig und schonend für den Patienten untersuchen?
Inge Edler möchte militärische Geräte aus dem Zweiten Weltkrieg umbauen und daraus Medizintechnik machen. Radaranlagen sind dazu nicht geeignet, das erkennt der Physiker Hertz sofort. Sehr hohes Potential vermutet Carl Hellmuth Hertz in der Sonar-Technik: Ultraschallwellen können nicht nur U-Boote orten und Torpedos lenken, auch so schnelle Bewegungen wie die der Herzklappen müsste sich genauestens sichtbar machen lassen. Um seine Vermutung zu überprüfen, fährt er in eine Werft in Malmö, wo die Schweißnähte von Schiffen mit Ultraschall überprüft werden. Hertz hält sich eine Schallsonde zwischen die Rippen, richtet die Wellen auf sein Herz – und sieht das Echo seines Herzschlags auf einem Bildschirm! Im Mai 1953 leiht er sich eines dieser Ultraschall-Materialprüfgeräte, um mit Edler zusammen zu experimentieren. Doch der Apparat ist für weiterführende Untersuchungen nicht geeignet. Ein für die Medizin optimiertes Ultraschall-Gerät muss her, und dabei helfen Hertz seine guten Kontakte zu Siemens.
Carl Hellmuths Vater, der Nobelpreisträger Gustav Hertz, war einige Jahre vorher, von 1935 bis 1945, Leiter eines eigens für ihn gegründeten Siemens-Forschungslaboratoriums. (Nicht weniger renommiert ist der Onkel Gustavs, Heinrich Hertz, nach dem die physikalische Maßeinheit der Frequenz benannt ist.) Carl Hellmuth nimmt Kontakt zu Siemens auf und verbindet einen Besuch bei der Medizintechnik-Sparte des Unternehmens mit einem persönlichen Anlass: Einige Wochen nachdem er in der Werft den Schlag seines Herzens beobachtet hat, heiratet er, reist in den Flitterwochen nach Deutschland, lässt seine Frau Birgit dort einige Stunden alleine und trifft sich mit Siemens-Direktor Wolf Gellinek am Hauptsitz der Medizintechnik im fränkischen Erlangen.
Hertz leiht sich ein Gerät, das unter anderem um eine spezielle Kamera erweitert ist, so dass die Untersuchungsergebnisse gespeichert und verglichen werden können. Zurück in Schweden macht er sich zusammen mit Edler und einigen jüngeren Wissenschaftler der Universität an die Arbeit.


Die erste Ultraschallaufnahme eines schlagenden Herzens im Jahre 1953
Am 29. Oktober 1953 tasten sie mit dem Apparat die Echos aus dem Herzen zunächst als A-Mode-Signale ab, die Kamera macht die Herzfunktion anschließend als Kurve sichtbar – die Erfindung des M-Mode und die erste nicht-invasive Darstellung der Herzfunktion in der Geschichte der Medizin.
Im Dezember reisen Edler und Hertz gemeinsam nach Erlangen, um mit einigen Siemens-Ingenieuren weitere Verbesserungen zu erarbeiten. Der Apparat wird unter anderem optimiert durch „einen Bildausschnitt, der nur die medizinisch interessierenden Impulse wiedergibt“, und Hilfen für den Arzt, die die korrekte Führung des Schallkopfs erleichtern. Edler und Hertz erhalten auch eine speziell geformte Sonde, die in die Speiseröhre eingeführt werden kann und dadurch noch präzisiere Untersuchungen ermöglichen soll. Von nun an ist Inge Edler kaum noch von dem Ultraschallgerät zu trennen. Er nimmt den Apparat an vielen Wochenenden mit nachhause, im Urlaub mit ins Sommerhaus, und sogar am Weihnachtsabend wird er damit gesehen. Seine Frau und seine vier Kinder unterstützen ihn, hin und wieder auch als Probanden: Sein Sohn Anders, zum Beispiel, wird zuhause mit dem Speiseröhrenschallkopf untersucht.

Hertz (l.) und Edler mit ihrem optimierten Ultraschallgerät von Siemens
Nach zwei Jahren Forschung sind die Ergebnisse so gesichert, dass Edler sich bei bestimmten Herzuntersuchungen auf die Ultraschall-Diagnostik verlassen kann. 1956 ist das Verfahren bereits so präzise, dass damit ein Tumor im linken Vorhof eines Herzen entdeckt wird. Im Jahre 1958 ermöglicht ein neuentwickelter Schallkopf von Siemens, auch die Strukturen des Herzens zu untersuchen. Es dauert jedoch noch einige Jahre, bis sich das Verfahren weltweit durchsetzt und den heute gebräuchlichen Namen erhält: Echokardiographie. Nach dem Durchbruch erhalten die Pioniere zahlreiche Preise, unter anderem wird Inge Edler zu Schwedens Kardiologen des 20. Jahrhunderts gewählt und empfängt zusammen mit Carl Hellmuth Hertz den Lasker Award, mit dem Maßnahmen und Programme zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit und der Verlängerung des Lebens ausgezeichnet werden.
Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute