Bildgebung

Die verrückte Idee eines Gentleman 

Die Anfänge der Computertomographie

4min
Ingo Zenger
Veröffentlicht am December 1, 2021

London, im Herbst 1971: Ein Radiologe und ein Ingenieur hüpfen – wie einer der beiden später erzählt – vor Freude „auf und ab wie zwei Fußballspieler beim Siegtor“. Sie halten ein völlig neuartiges Röntgenbild in der Hand: eine sogenannte Tomographie, die ein Gehirn in bisher ungekannter Qualität abbildet. Der Radiologe, James Ambrose, sieht das Gehirn seiner 41-jährigen Patientin auf diesem Bild „viel detaillierter als wir erwartet hatten.“ Er erkennt deutlich die Hirnrinde, die mit Hirnwasser gefüllten Hohlräume und sogar die weiße Substanz. 

Godfrey Hounsfield

Mit dem Prototyp seiner „3D-Röntgenmaschine“ leitet Hounsfield die Entwicklung einer Technik ein, die heute zu den wichtigsten der medizinischen Bildgebung gehört: die Computertomographie (CT).

Godfrey Hounsfields Prototyp basiert – in den positiv gemeinten Worten eines Vorgesetzten – auf einer ziemlich „verrückten Idee“: Hounsfield möchte das Innere von Objekten in einzelnen Schichten abbilden, „so als würde man das Objekt in einer Aufschnittmaschine schneiden.“ Nach mehrmonatiger Überzeugungsarbeit erhält er von seinem Arbeitgeber, der Elektronik- und Schallplattenfirma EMI, Budget zum Bau eines Prototyps.  

Prototyp des ersten Computertomographen

Beim ersten klinischen Modell, das ab 1. Oktober 1971 in der Abteilung James Ambroses im Atkinson Morley´s Hospital getestet wird, fehlt ein Computer zur Bildberechnung – und zunächst ist auch nicht geplant, einen solchen in zukünftige CT-Scanner zu integrieren. Die im Gehirn gemessenen Daten werden auf einem Magnetband gespeichert und mit dem Auto in ein etwa 20 Kilometer entferntes EMI-Labor gefahren. Hounsfield und Ambrose veröffentlichen die ersten Testergebnisse am 20. April 1972 und lösen die bis dahin größte Sensation in der medizinischen Röntgentechnik seit der Entdeckung der X-Strahlen aus. Praktisch von einem Tag auf den anderen verändert die Computertomographie die weitere Entwicklung der medizinischen Röntgentechnik.

Die Geschichte der Computertomographie bei Siemens Healthineers beginnt mit einer Reise nach London ins Forschungslabor von EMI. Der Besuch sei laut Friedrich Gudden, dem damaligen Leiter der Siemens-Röntgenentwicklung, sehr aufschlussreich gewesen: „Ausgezeichnetes Essen und Godfrey Hounsfield, der Erfinder der Computertomographie, kam persönlich dazu. Er machte einen sehr guten Eindruck auf mich, ruhig und unprätentiös, ein echter British Gentleman. Und was er erzählte, war faszinierend, so zum Beispiel, dass am Anfang die Messwerterfassung für ein Bild neun Tage dauerte.“

Noch 1972 beginnt In der Grundlagenforschung bei Siemens in Erlangen die Entwicklung eines leistungsfähigen CT-Scanners, der auf die Arbeitsabläufe in Kliniken und Arztpraxen optimiert ist. Die „riesige Begeisterung“, mit der sich das Siemens-Team an die Arbeit macht, findet Friedrich Gudden noch rund 30 Jahre später „unvergesslich“. An jedem Tag wird bis tief in die Nacht gearbeitet. Häufig fährt Gudden die Mitarbeiter, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenen sind, nach Mitternacht persönlich nach Hause.

Siemens Siretom Schädelscanner

Als Siemens den Prototyp des SIRETOM ab Mitte 1974 im Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main testet, „wurden Heerscharen von Besuchern nach Frankfurt gebracht, darunter auch Mitbewerber, die sowohl die Rechenzeit, wie auch den Bedienkomfort und die Bildwiedergabe bewunderten.“ Das SIRETOM sei zu diesem Zeitpunkt allen Geräten, die auf dem Markt waren, weit überlegen gewesen. „Wenn wir damals hätten liefern können, wären beliebig viele verkauft worden. Fragten die amerikanischen Ärzte nach der Lieferzeit und hörten unsere Antwort, so haben sie je nach Charakter geweint oder gelacht.“

Ein Jahr später, im November 1975, beginnt die Serienproduktion des SIRETOM – und in den folgenden 45 Jahren prägen die Ingenieure von Siemens Healthineers die Entwicklung der Computertomographie mit einer langen Reihe richtungsweisender Erfindungen. 

Links: Eine der ersten Aufnahmen des Gehirns mit dem Prototyp des Siemens SIRETOM. Rechts: Ein mit Cinematic Rendering berechnetes klinisches Bild aus CT Daten

Moderne Computertomographen arbeiten noch immer nach dem von Godfrey Hounsfield erdachten Grundprinzip – doch technisch gesehen liegen zwischen damals und heute Welten. Die großen Meilensteine von Siemens Healthineers – wie die Spiral CT, die PET/CT oder die Dual Source CT – werden sicher nicht die letzten sein; denn, wie Godfrey Hounsfield einmal sagte: „Viele Entdeckungen liegen wahrscheinlich gleich hinter der nächsten Ecke und warten nur darauf, dass jemand sie zum Leben erweckt.“


Ingo Zenger
Ingo Zenger
Von Ingo Zenger

Technikjournalist und Autor im Siemens Healthineers Historical Institute